Unsere nächste Station ist Semey. Früher hieß die Stadt am Fluss Irtisch Semipalatinsk, da sie bei ihrer Gründung 1718 aus einer von sieben (russisch: sem) Zelten (russisch: palatki) umgebenen Festung bestand. Nach einer mehrstündigen Autofahrt durch die erneut atemberaubend schöne, diesmal jedoch recht abwechslungsreiche Steppenlandschaft, kamen wir am Abend in unserem Hotel „Semey“ an.
Sogleich wurden wir von Inas Cousine, deren Ehemann sowie einem befreundeten Paar auf eine Stadtführung durch das nächtliche Semey mitgenommen. Die Tour endete in einem fröhlichen Schaschlik-Gelage. Sveta ist Kasachstan-Deutsche, blieb jedoch während der großen Migrationswelle in den 90ern in der Stadt. Sie habe wohl irgendwann den Momemt verpasst, sagt sie. Bereuen tut sie es nicht. Deutschland kennt sie von Besuchen bei der Verwandtschaft. Natürlich sei es da schön und ordentlich aber eben auch sehr regelorientiert, findet sie, und hier gäbe es eben doch etwas mehr Freiheit.
Wir erfuhren, dass Semey in der Entwicklung etwas stagniert seitdem der Verwaltungssitz der Oblast von hier nach Öskemen übertragen wurde. Die wohl bedeutendste Persönlichkeit dieser Stadt ist der kasachische Dichter und Denker Abai Qunanbajuly (1845-1904). Er ist eine Nationalfigur des Landes, seine Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und er dient als Namenspate für Straßen, Plätze und Kultureinrichtungen in kasachischen Städten. Natürlich gibt es auch in Semei einen Platz, dessen Mitte eine imposante Abai-Statue ziert. Eindrücklich ist auch das Mahnmal für die Nuklearwaffen-Tests. Auf einem Gelände unweit von Semei, Polygon genannt, führte die Sowjetmacht von 1949 bis 1989 überidische sowie unteridrische Atomwaffentests durch. Unter dem Druck der Bürgerbewegung Nevada – Semipalatinsk, angeführt vom bekannten Dichter Olschas Omarowitsch, wurde das Atomwaffentestgelände geschlossen 1991. Noch bis heute leiden Bewohner der nahen Ortschaften an den gesundheitlichen Folgen wie häufigen Krebserkrankungen .
Am folgenden Tag trafen wir Raissa, eine ehemalige Schulfreundin von Inas Mutter. Sie führte uns zum Studentenwohnheim und pädagogoschen College, wo beide einst die Schulbank drückten. Raya selbst war seit über 40 Jahren nicht mehr dort und staunte darüber, dass sich irgendwie nichts und doch auch alles verändert hatte. Ernneut kamen wir in den Genuss der kasachischen Gastfreundschaft und Spontaneität: die stellvertretende Direktorin gab uns eine Führung durch das Schulgebäude, erzählte von der Gegenwart und Vergangenheit dieser, im ganzen Land hochangesehenen, Lehranstalt. Ein Abstecher bei der Verband der Kasachstan-Deutschen „Wiedergeburt“ im Haus der Freundschaft durfte ebenso wenig fehlen wie ein Besuch im Heimatmuseum.
Raissas Ehemann Orazbek, der noch zu Sowjetzeiten zu dem Namen „Otto“ gekommen war (ähnlich wie Volker zu seinem kasachischen Namen), erzählte von seinen ehemals guten Deutschkenntnissen, von denen leider kaum noch etwas übrig geblieben sei. In seinem Heimatdorf sei die Hälfte der Bewohner Deutsche gewesen und noch heute hätte er mit einigen Kontakt, obowhl sie längst nach Deutschland ausgewanderts seien. Er und auch Raissa betonten immerwieder das freundschaftliche Miteinander zwischen Kasachen, Deutschen, Russen und anderen Nationalitäten. Auch heute leben noch um die 33 verschiedene Ethnien in Semei.
Dass Gastfreundschaft hier einen sehr hohen Stellenwert hat, durften wir auf vielfältigste Art erleben. Ob entfernte Verwandte oder Freunde der Familie, die man zum ersten Mal trifft, Mitarbeiter:innen in öffentlichen Einrichtungen oder Verkäufer auf dem Markt – die Offenheit und Herzlichkeit der Menschen ist einnehmender als der Glanz von Nur-Sultan oder gar die Weite der Steppe.