Kaum hatten wir Ulken Narym verlassen, bot sich unseren Augen eine neue, geradezu maritime Landschaft. Der Fluss Irtysch begleitet uns nun schon seit Wochen und weiß uns doch jedes Mal aufs Neue in Erstaunen zu versetzen: ob als von Promenaden umsäumter Stadtfluss, im idyllischen Buchtarma-Stausee oder mächtigen Saissansee. Letzterer war unser nächstes Ziel. Erstaunt waren wir auch über den schnellen Temperaturanstieg, unabhängig vom Ortswechsel. Innerhalb einer Woche kletterten die Werte so hoch, dass wir unsere dicken Jacken gegen T-Shirts tauschten.
Um zum Saissansee zu gelangen, verließen wir die Hauptstraße und fuhren auf eine Steppenpiste. Dank Vierradantrieb konnten wir sämtliche Schlammlöcher überwinden und erreichten das kleine Fischerdorf Amanat. Diese direkt am See gelegene Siedlung ergriff uns in ihrer ganz eigentümlichen Stimmung. Breite, unbefestigte Straßen, Häusschen, die irgendwo mitten im Raum stehen, zahlreiche Lehmhütten (wahrscheinlich Ställe oder Lager), umherkreisende Möwen und Greifvögel – das alles kreierte einen entrückten, ja, unwirklichen Ort. Belebt wurde dieser von einigen spielenden Kindern und jungen Männern, die auf Motorrädern durch den Ort heizten. Wenige Alte saßen auf kleinen Bänken vor ihren Häusern. „Ooh, aus Deutschland kommt ihr. Na, eine gute Reise euch“, wünschte uns eine ältere Frau. Ein junger Fischer interessierte sich sehr dafür, wie Volkers Kamera funktioniert. „Ein Foto mit mir? Doch nicht in diesen Klamotten, das geht nicht!“ Dank etwas Überredungskunst ließ er sich dann aber doch in seiner Arbeitskleidung ablichten.
Auch wenn dieser Ort wie aus der Zeit gefallen, geradezu unberührt schien – die Spuren der Moderne breiten sich nur wenige hunderte Meter hinter dem Dorf aus. Die Steppe war übersäht mit Flaschen, Tüten und anderern Verpackungen aus Plastik. Leider war dieser Anblick keine Seltenheit auf unserer Reise. Kasachstan hat ein Müllproblem. Dem liegt einerseits die mangelnde ökologischer Bildung der Bevölkerung zugrunde, als auch ein Mangel an Deponien, die für die zunehmenden Müllmengen nicht mehr ausreichen. Ein Problem, das Präsident Tokajew 2020 auf seine Agenda geschrieben hat. Ein neues Schulfach soll bereits Kinder für ökologische Themen sensibilisieren. Daneben widmen sich Innitiativen der Aufklärung und kollektiven Müllbeseitigung.
Auf dem Weg zurück, wir mussten wieder auf die Hauptstraße, stand plötzlich im Niemandsland ein Auto und einige Männer drumherum. Wohin wir des Weges seien, fragten sie uns. In die Stadt Saissan, antwortete ich. Sogleich wiesen sie uns an, wieder zurück in das Fischerdorf zu fahren und von dort die kürzere Straße entlang des Sees zu nehmen. Ob sie vom Himmel gefallen sind – wir wissen es nicht. Jedenfalls beschlossen wir, ihrem Rat zu folgen. Tatsächlich führte eine Straße aus Amanat viel schneller nach Saissan. Unser Timing war perfekt. Denn gerade bei unserer Ankunft im Hotel wurde der Schaschlik-Grill vor der dazugehörenden Асхана ( Ashana – eine Art Cafeteria) angeschmissen.
Zwei Tage verbrachten wir im kleinen Städtchen Saissan und fühlten uns dort schnell heimisch. Das lag zum einen an der Übersichtlichkeit des Ortes und zum anderen an den Menschen. Morgens tranken wir Tee in der Асхана. Dann gingen wir auf den Markt, der sich direkt um die Ecke befand und deckten uns mit etwas Obst, Gemüse und natürlich Kurt ein. Gleich am ersten Tag machten wir die Bekanntschaft mir Indira, die als Köchin in einem Restaurant arbeitet. Wir seien die ersten Ausländer, die sie hier treffe, erzählte sie uns. „Das Leben in Saissan ist in den letzten Jahren immer besser geworden. Ich lebe gerne hier“, sagte sie und berichtete von den vielen Stadtentwicklungsmaßnahmen wie Schulbau und Infrastruktur des neuen Bürgermeisters. Ob wir denn nicht ein Foto von ihr und den Mädels machen wollten, fragte sie mit einem etwas erschmitzten Lächeln. Natürlich!
Auf dem Rückweg zum Gasthaus kamen wir an einer Gruppe Taxifahrer vorbei, die auf Bänken saßen und auf Kundschaft warteten. „Woher kommst du?“, fragte mich einer von ihnen. Ich gab routiniert eine Zusammenfassung, wer ich und Volker seien und was wir hier machten. Der Fragende, Irkin, gab wiederum eine Zusammenfassung, warum er nach Deutschland oder Kanada auswandern möchte. Zu starr und undurchsichtig seien die politischen wie wirtschaftlichen Strukturen in seinem Heimatland. Er selbst mit 50 Jahren wohl aber zu alt, um in der Fremde den Neuanfang zu machen. „Komm, wir machen ein Foto als Erinnerung“, sagte er und rief seine Kollegen herbei zu den zwei „iz Germanii“.
Die neue Freundschaft mit Irkin sollte sich kurz darauf als eine gute Fügung erweisen. Wir wollten es wieder mit dem See Markakol versuchen, diesmal von der südlichen Seite. Nur kamen wir nicht sonderlich weit. Ein platter Reifen beendete unseren Ausflug bereits nach einigen Metern. Ob er einem der Schlaglöcher auf den Straßen oder den Steppen-Strapazen tags zuvor zum Opfer gefallen war? Volker wollte den Reifen zunächst selber auswechseln, musste jedoch auf Grund des dürftigen Werkzeugs im Auto aufgeben. Ich ging zu den Taxifahreren zurück, und wenige Minuten später hatte Irkin den Reifen mit einem Kompressor aufgepumpt und uns zu einem Reifendienst (den es hier übrigens alle paar Meter gibt) seines Vertrauens gelotst. So warteten wir bei knackigen 28 Grad im Schatten in praller Sonne (es war kein Schatten weit und breit zu finden) auf die Weiterfahrt.
Der Weg zum See führte uns diesmal durch das Azutau-Gebirge. Bald trennten uns nur wenige Kilometer von der chinesischen Grenze, hinter der sich die autonome Region Xinjiang der Uiguren befindet. Die rote Fahne der Grenzposten war in Sichtweite. Den Berg hinauf ging es auf mit Schlaglöchern übersähten Serpentinen. Und wie so oft auf der Reise, bei der wir beinahe täglich hunderte von Kilometern durch Steppe und Gebirge zurücklegen, dachten wir an Brehm und stellten uns vor, diesen Weg allein auf einem Pferderücken zu bestreiten. Da zogen wir die zuweilen holprige Fahrt doch vor. Und dann das phänomenale Panorama! Was kümmerten uns da noch Straßenverhältnisse.
Irgendwann erstreckte sich eine zauberhafte, winterliche Landschaft vor uns. Der Weg war jedoch frei und wir sahen uns schon bald am Ufer des Sees stehen. Wir passierten das Dörfchen Аkzhailau (Uspkenka), nur noch wenige Kilometer trennten uns vom Markakol. Und erneut…Schnee! Plötzlich war die Straße belegt. Vor uns versuchten bereits einige Männer ihr steckengebliebenes Auto rauszuschieben. Keine Chance! Tja, mit Pferden wäre das für uns hier kein Problem gewesen.
Am Abend trafen wir noch Irkin auf einen Tee. Er stellte uns viele Fragen über Deutschland: „Die Luftfeuchtigkeit ist bei euch höher, oder?“ „Alles ist ordentlich, nicht wahr? Häuser, Straßen, Menschen…“ „Ich habe gehört, dass dort eine Ortschaft endet und schon nach wenigen die nächste beginnt. Stimmt das?“ Unsere Antworten bewegten sich zwischen Klischeebestätigung und Desillusionierung. Der gebürtige Saissaner erzählte uns, dass er alles hier verkaufen und mit seiner Frau nach Öskemen ziehen wird, in die Nähe der Töchter. Dort wird er sich dann einen neuen Job suchen, erzählte Irkin. Zumindest für diesen Wechsel fühle er sich nicht zu alt.