Abends kamen wir in Öskemen an, der Hauptstadt des Gebiets Ostkasachstan. Was uns am nächsten Tag alles passieren sollte – davon konnten wir nicht einmal träumen. Wir hatten zwei Ziele auf dem Plan: das unweit (nach kasachischen Entfernungsmaßstäben) von Öskemen gelegene Heimatdorf meiner Mutter sowie die Arkatberge. Diese Felsformation – damals hieß sie noch Poltoratskaya hatte bereits Brehm beeindruckt.
Über holprige Straßen erreichten wir das Dorf Adi, benannt nach dem Partisanen-Kämpfer, Schriftsteller und Politiker Adi Scharipov. Er wurde in diesem kleinen Dorf, das damals noch Marinovka hieß, geboren – ebenso wie meine Mutter. Von unserer Familie lebt schon lange niemand mehr dort. Allein meine Großmutter liegt auf dem Dorffriedhof begraben und ihr wollte ich einen Besuch abstatten. Es ist nicht mehr viel von dem Friedhof übrig geblieben, doch ihr Grab steht noch. Die Namen auf den anderen Grabsteine, die man noch lesen kann, sind mehrheitlich deutsch.
Während wir da rumliefen, sah ich von weitem einen Mann auf einem Motorrad herannahen. Klar, der ist vom Ort und will wissen, was wir hier machen, dachte ich mir und so war es auch. „Salem Aleikum! Zdravstvuyte!“, sagte er und wies uns darauf hin, dass das Gelände zum Ort gehört. Ich grüße ihn und erklärte, dass meine Großmutter Mathilda Hildebrandt hier begraben liege. Da schaute er mich an, griff mit der Hand an sein Herz und sagte: „Mathilda war ein sehr guter Mensch!“ Ich konnte es nicht fassen, dass er sie kannte. Denn meine Großmutter kannte ich nur von Erzählungen, sie war lange vor meiner Geburt gestorben und deswegen schienen mir die Geschichten von ihr und dem Leben im Dorf undendlich weit weg, wie aus einem vergangenen Jahrhundert. Die plötzliche Verbindung in die Gegenwart war überwältigend. Unsere neue Bekanntschaft Talgat kannte sie als kleiner Junge, ebenso wie meinen Großvater, meine Mutter und meinen Onkel. Sogleich lud er uns zum Tee zu sich nach Hause ein.
Während Talgats Ehefrau den Tisch deckte, unterhielt ich mich mit seiner Mutter, die ebenfalls mit ihnen zusammen lebt. Die 90-Jährige konnte sich noch gut an die deutschen Nachbar:innen erinnern, die nach und nach das Dorf verließen. Sie schwärmte von der Güte meiner Oma, die damals den Dorfladen führte. Natürlich erzählte sie auch Anektodenten von feuchtfröhlichen Zusammenkünften, für die jederzeit ein Anlass gefunden wurde. Nach dem Krieg konnten die Leute etwas entspannen, erzählte sie, das Bedürfnis nach Ausgelassenheit sei groß gewesen. Wie gut die mehrheitlich deutschen und kasachischen Dorfbewohner miteinander ausgekommen seien, schwärmte die alte Frau. Sie zählte Namen auf, fragte, wie es dem einen oder der anderen in Deutschland ergangen sei und ob die Alten noch am Leben seien. Leider konnte ich ihr kaum Auskunft geben, da ich diese Menschen auch nur aus Erzählungen vergangener Tage kannte. Wahrscheinlich kam ich mir in meinem Leben noch nie so sehr wie in einem Film vor, wie an diesem Tag.
In Marinovka kam Volker auch in den Genuss eines Beshbarmak „für Fortgeschrittene“: mit hausgemachter „Kazy“ (Pferdewurst) und prallen Fettstücken. Selbst für seinen mittlerweile trainierten Gaumen war das eine Herausforderung. Deutlich bekömmlicher schien dagegen der frische „Kurt“, ein salziger und bröckeliger Quark. Jedenfalls hielt sich Volker bei den mehrmaligen Aufforderungen seitens der Gastgeber:innen, doch mehr zu Essen, an die mit Kurt gefüllten Schälchen.
Bevor wir weiterfuhren, statteten wir noch der ehemaligen Dorflehrerin Elena Josefova Kwatsch einen Besuch ab. Die 80-Jährige erinnerte sich noch lebhaft an meine Mutter, die sie bis zur 7. Klasse unterrichtete. Auch hier mussten natürlich noch einige Schalen Tee getrunken, Geschichten erzählt, „sprechen Deutsch“ und die aktuelle deutsche Politik kurz diskutiert werden. Angela Merkel hat in Marinovka jedenfalls einige Fans. Zum Abschluss fasste sich Elena Josefovas Ehemann an den Kopf und sprach: „Das Leben ist kurz, Leute. Es ist verdammt kurz!“
Volker und ich konnten eigentlich kaum glauben, welchen Verlauf diese kurz geplante Friedhofsvisite nahm. Gerne wären wir noch länger in Marinovka geblieben, doch die Zeit drängte… schließlich warteten die Arkatberge auf uns. Dort angekommen, prasselten die nächsten Eindrücke auf uns ein – diesmal im wahrsten Sinne ästhetischer Natur. Die Felsen und die sie umgebende Landschaft begeisterten uns nicht weniger, als seinerzeit Brehm.
Und während Volker mit seiner Kamera irgendwo zwischen den Felsen verschwand, sah ich einen Reiter in unsere Richtung kommen. Ich begab mich zum Auto, um eventuell wieder Auskunft über uns zu geben. Der junge Kasache erzählte, dass sein Hof in der Nähe sei und er sich gewundert hätte, ein Auto hier zu sehen. Ich erzählte, dass wir aus Deutschland gekommen seien und hier ein Kunstprojekt machten. „Kommt zu Besuch, mein Haus ist gleich da vorne“, sagte er. Wenn wir nicht noch einige hundert Kilometer vor uns gehabt hätten…